Schlanke Reorganisation: Produktiv in die neue Zukunft

Jetzt ist strategische Effizienz angesagt. Filip Specht hat Erfahrung im Umgang mit epidemiologischen Herausforderungen an Bord. Der Chef-Ingenieur der Lean Maritime GmbH fährt als Handelsmarineur der dritten Generation seit nunmehr 30 Jahren zur See. Wir haben ihn gefragt, wie eine schlanke Reorganisation Kreuzfahrtunternehmen erfolgreich in die neue Zukunft führen kann:

Wie hilft Lean Management der Kreuzfahrtindustrie durch die Krise?

„Mit dem Abflachen der Covid-19-Pandemie beginnt für die Kreuzfahrtindustrie eine neue, von Veränderungen geprägte Ära, ein Neustart in ein unbekanntes und unerschlossenes Gebiet. Für Eigner und Betreiber geht es jetzt vor allem darum, die Kosten zu senken – bei gleichbleibender Servicequalität. Genau das schafft die schlanke Reorganisation. Wir analysieren die Prozesse an Bord und identifizieren das Verbesserungspotential. Mit dem Einsatz der Lean-Prinzipien gestalten wir sowohl die erforderlichen neuen als auch die bereits etablierten Arbeitsabläufe effizient. Das Ergebnis: Eine deutliche Kosten- und Leistungsverbesserung sowie eine stabile Prozessstruktur, die kommende Unwägbarkeiten bestmöglich abfängt.“

Filip Specht begann seine Kreuzfahrtschiff-Karriere 1999 an Bord von Star Cruises, M/V Superstar Leo. Seither war er für den technischen Betrieb von Kreuzfahrtschiffen zuständig und verantwortete die Neubauten verschiedener Eigner. Heute ist Filip Specht Chef-Ingenieur und Technischer Direktor der Lean Maritime GmbH. Foto: Lean Maritime

Wie gelingt es Betreibern und Eignern, die Produktivität trotz strenger neuer Vorschriften zu steigern? 

„Während die Effizienzsteigerung mithilfe der Lean-Logik bislang eine wunderbare Möglichkeit zur Kosten- und Leistungsoptimierung war, ist sie jetzt ein absolutes Muss, um wirtschaftlich zu überleben. Viele neue Regularien und damit verbundene zusätzliche Aufgaben stehen einer reduzierten Besatzung bei geringer Auslastung gegenüber. Realistisch betrachtet müssen wir also sämtliche Abläufe zerlegen, untersuchen, straff wieder zusammensetzen und in einer Reihe von kurzen Pilotläufen implementieren. Dabei orientieren wir uns streng an der Wertschöpfung und können sie auf diese Weise verbessern. Das Lean-Verständnis innerhalb der Besatzung ist in diesem Zuge unerlässlich. Mitarbeiter-Trainings gehören somit ebenfalls zu den zentralen Bestandteilen der Produktivitätssteigerung.“

Inwieweit ist es möglich, die Dienstleistungsqualität bei reduzierter Besatzung auf einem hohen Niveau zu halten?

„Die Bewertung der Servicequalität obliegt den Gästen. Wir erheben Daten aus ihrer Perspektive und schauen, was genau sie an Bord erwarten, benötigen oder wünschen. Ziel ist es, diese konkreten Bedürfnisse abzudecken und zugleich unnötige oder übertriebene Tätigkeiten zu beseitigen. Parallel dazu etablieren wir die Verfahren der neuen Hygienevorschriften schlank und angepasst. Je nach Notwendigkeit gestalten wir diese neuen Prozesse entweder unauffällig oder wir präsentieren sie offen – vielleicht sogar mit Show-Charakter – als Mehrwert für die Gemeinschaft an Bord. Hierbei verfolgen wir einen ganzheitlichen Planungs- und Verfahrensansatz, der sowohl den emotionalen und regulatorischen Anforderungen gerecht wird als auch auf kurzfristige Änderungen flexibel reagieren kann.“

Somit ergänzt das agile Management die schlanke Logik der anstehenden Neuausrichtung?

„Ja. Eine agile Denkweise unterstützt die Lean-Methodik in dieser Situation ausgezeichnet. Der Aufbruch ins Ungewisse erfordert robuste, keine starren Strukturen. Einhergehend mit neuen medizinischen Erkenntnissen können sich Vorgaben von Woche zu Woche verändern. Ein aktuelles Beispiel wären hier die Aerosole. Sie erfordern andere Hygienemaßnahmen als Schmier- oder Tröpfcheninfektionen. Es gilt daher, neue Regelungen jederzeit in die bestehenden Prozesse integrieren zu können – ohne lange Tests und Trainings. Daher implementieren wir Werkzeuge und Methoden an Bord, die helfen, Routinen schnell, geplant, effizient und flexibel anzupassen.“

Warum ist die Hygienesicherheit entscheidend? Was ist ihre große Chance?

„Der Kreuzfahrtindustrie haftet seit jeher das Stigma an, eine Petrischale voller Viren und Bakterien zu sein. Das ist völlig ungerechtfertigt. Zahlen widerlegen diese Behauptungen, dennoch geistern solch emotionale Annahmen durch die Öffentlichkeit. Die große Chance der verstärkten Hygienemaßnahmen liegt nun darin, der Kreuzfahrtindustrie ein saubereres, gesünderes und zugleich realistischeres Image zu verschaffen. Dieses Ziel bedarf einer gemeinsam getragenen Denkweise. Wenn jeder hart daran arbeitet, Infektionen ­– sei es mit Covid-19, Grippe oder einer Magen-Darm-Erkrankung – an Bord zu verhindern und entsprechend zu kommunizieren, können wir das Vertrauen potentieller Gäste in die Gesundheitspflege an Bord solide aufbauen.“

Ganz pragmatisch: Welche Prozesse sollten jetzt zuerst reorganisiert werden? 

„Zunächst ist es wichtig, die Reise der Gäste neu nachzuvollziehen – von dem Moment an, an dem sie sich für eine Kreuzfahrt entscheiden. Der gesundheitliche Aspekt dominiert auch diese Analyse. Bereits mit der Buchung muss der Reiseveranstalter wissen, ob die Gäste wirklich reisefähig sind und ob möglicherweise medizinische Vorerkrankungen vorliegen. An Bord gilt es, jeden Punkt der direkten oder indirekten Interaktion zwischen Gast und Schiff zu untersuchen. Gute Kommunikation wird auch hier entscheidend sein, um neue Standards umzusetzen und den Gästen ein gutes Gefühl zu geben. Die anschließende Reorganisation der einzelnen Abteilungen staffelt sich ­– im Sinne der Kostenreduktion – nach ihrer Arbeitsintensität.“

Warum ist es wichtig, die neuen Prozesse von Anfang an strategisch effizient zu gestalten?

„Prozesse von Grund auf zu entwerfen, sie zu trainieren und zu implementieren ist deutlich einfacher und schneller als Routinen zu unterbrechen, um sie zu verändern. Wir durchdenken die Abläufe vorab, nicht erst dann, wenn sie sich eingespielt haben. Bei neuen Verfahren haben wir die Chance, schlanke, bewegliche und fehlersichere Prozesse gemäß einem korrekten und detaillierten Plan zu installieren. Das spart eine Menge Aufwand und Zeit.“

Wie nachhaltig ist die schlanke Reorganisation über die Krise hinaus?

„Der Grundgedanke der Lean-Logik ist die kontinuierliche Verbesserung. Wenn wir eine Vision haben, die unser Unternehmen bereichert, werden wir unser Geschäft dahingehend fortwährend optimieren. In Anbetracht der Vielzahl an Prozessen im Betrieb eines Kreuzfahrtschiffs, die nicht wertschöpfend sind, haben wir auch über die Krise hinaus eine Menge zu tun, um sie mithilfe des Lean Managements nachhaltig zu verbessern.“

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